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Sherlock Holmes

das unheilvolle Familienerbstück
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Das zweite Kapitel heute. Viel Spaß beim Lesen. Komplett anzeigen

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Gefühlsduselei eines Soziopathen

John drehte Sherlock den Rücken zu und ließ den Stoff seines Bademantels an seinen Schultern herunter gleiten. Hinter ihm holte Sherlock zur gleichen Zeit ein Kompresse, Wundsalbe und eine Mullbinde aus dem Koffer und legte alles neben sich auf die Couch. Desinfektionsmittel war wohl nicht mehr notwendig, der Detektiv konnte eindeutig riechen, dass der Doktor diese Schritte bereits selbst erledigt hatte. Nur das mit dem Verbinden hatte er wohl nicht selbst hinbekommen - konnte ja aber nicht so schwer sein, zumindest wenn man es bei jemand anderem als bei sich selbst tun sollte. Er sah auf, schaute sich die Verletzung etwas genauer an. Sie bestand aus einem schmalen, senkrechten, ca. 5cm langen Riss auf dem rechten Schulterblatt, dessen Wundränder etwas fransig aussahen. Johns Haut war, direkt über dem Schulterblatt durch den heftigen Aufprall auf den Kleiderhaken aufgeplatzt. Sein Hemd war blutgetränkt gewesen, wie John ihm versicherte, nicht besonders schlimm. Sherlock erkannte an der leicht geröteten Haut deutlich, dass John wohl erst ziemlich warm gebadet haben musste und im Anschluss die Verletzung mit kaltem Wasser ausgespült hatte. All diese Deduktionen schossen dem Detektiv wie immer ganz automatisch durch den Kopf, was er jedoch erst richtig mitbekam, als Johns Stimme ihn abrupt aus diesen riss.
 

“Sherlock?…” Ah ja, wo war er bloß wieder mit seinen Gedanken? Der Consulting Detective tadelte sich selbst, wollte seine Analyse gedanklich beiseite legen und sich endlich der Versorgung der Wunde seines Mitbewohners widmen. Er nahm sich sogleich die Wundsalbe, tat etwas davon auf die Kompresse und legte diese, ohne Vorwarnung, auf die rötliche Stelle an Johns Rücken. Letztgenannter zog scharf die Luft, hielt aber ansonsten vollkommen still. Zügig rollte Sherlock ein kleines Stück Mullbinde ab und drückte das Ende auf die Kompresse am Rücken. “Arme heben,... Bitte.” Dem Befehl!/der Bitte? Folge leistend, hob John seine Arme und spürte dann auch schon Sherlocks kalte Hände, wie diese, geschickter als der Doktor vorher geahnt hatte, den Verband anbrachten. Der Größere hatte sich etwas nach vorne gebeugt, um die Verbandsrolle ungehindert auf Johns Oberkörper Abrollen zu können. Dieses Spiel wiederholte sich ein paar mal, während Sherlock immer wieder, kaum spürbar, mit Johns Rücken in Berührung kam. Der Stoff von dessen Hemd kitzelte den Kleineren ein wenig auf der nackten Haut. Es war nicht unbedingt unangenehm, dennoch löste es auf dessen Armen eine Gänsehaut aus. Außerdem die langen, schlanken, kühlen Finger, die seine warme Haut streiften. John musste sich wirklich zusammen reisen, damit ihm kein Schauer über den Rücken lief - das wollte er um jeden Preis vermeiden.
 

Sherlock unterdessen kam mit dem Verband so langsam zum Ende. Dabei entging ihm das leichte Zittern seines Freundes natürlich nicht. “Ist Ihnen kalt?”, war plötzlich in einem Flüsterton, für Johns Geschmack viel zu nah, an seinem rechten Ohr zu hören. Er drehte den Kopf zur Seite, suchte über die rechte Schulter die blau grauen Augen seines Mitbewohners, ließ dabei langsam seine Arme wieder sinken und strich sich auf halbem Weg kurz durch sein, noch leicht feuchtes, blondes Haar. “Nein,…es geht schon. …Und Danke fürs Verbinden.” Johns leise Stimme endete mit einem ausgehauchten Seufzen. Währenddessen fixierte Sherlock das Ende der Binde und packte dann die herumliegenden Sachen zurück in den Notfallkoffer, ließ dabei den Älteren nicht aus den Augen. Etwas fragend schaute der Detektiv drein, wusste nicht so recht, ob er den Worten seines Freundes Glauben schenken sollte. Doch er wollte nicht schon wieder neuen Fragen in seinen Gedankengängen aufkommen lassen, weshalb Sherlock es einfach bei einem üblichen Schmunzeln beließ und dabei den Notfallkoffer leise schloss. Stillschweigend saßen beide Männer auf der Couch. John hatte sich wieder weg gedreht und einen Punkt neben der Wohnungstür fixiert. Sherlock nutzte die Zeit und ließ seinen Blick nochmals über Johns Rücken gleiten. Angefangen bei den etwas verwuschelten, feuchten Haaren, über den Nacken, weiter runter zum Hals, die Wirbelsäule entlang Richtung Unterkörper.
 

Er hatte dabei aus einem, für ihn nicht nachvollziehbaren Grund, das Gefühl, noch immer die warme Haut des Kleineren zu berühren, wenn auch nur 'gezwungenermaßen'. Der Detektiv hatte ehrlich gedacht, nicht wirklich etwas gegen Körperkontakt, vor allem nicht mit seinem älteren Mitbewohner. Gerade bei dem Doktor waren dieses Gefühl und die Gedanken dazu auf merkwürdige Art und Weise ausgeprägter. Ein unzerstörbares, freundschaftliches Band, eine Verbindung, die nie zu zerbrechen drohte... glaubte Sherlock jedenfalls. Ob ihn seine Sinne nun täuschten oder nicht, John strahlte für ihn etwas aus, was der Consulting Detektive als überaus wohltuend empfand. Gerade er - ein hoch funktionaler Soziopath - dachte so über einen anderen Menschen. Kaum zu glauben aber wahr. Auch er war wohl dazu in der Lage, eine so tiefe und enge Freundschaft für jemandem zu empfinden. Für jemanden, der diese zudem sogar zu erwidern und ihm entgegen zu kommen schien. Welcher die Launen des exzentrischen, egoistischen, eigensinnigen Meisterdetektiv ertrug, ihm in bestimmten Situationen erdete, ihm voll und ganz zu vertrauen schien und sich augenscheinlich in der Nähe des vollkommen von der Norm abweichenden Menschen Sherlock Holmes sogar regelrecht wohlfühlte.
 

Wie der ehemalige Militärarzt es überhaupt schaffte, mit ihm zusammen zu leben, das fragte sich der Jüngere des Öfteren insgeheim schon. Er war darüber sogar beinahe erstaunt, konnte über diese Erkenntnis nur amüsiert den Kopf schütteln. Langsam hob er seinen Arm, machte kurz vor Johns Rücken halt und platzierte seine linke Hand ein paar Millimeter vor dessen Wärme ausstrahlender Haut. Sherlocks emotionsloses Gesicht verriet nur, dass er in diesem Augenblick vollkommen in seinen Gedanken gefangen war. Regungslos saß er hinter seinem Mitbewohner, während seine Hand, kurz vor einer leichten Berührung, in der Luft schwebte. … John war einer der wenigen Menschen in seinem Leben, die einen wirklich wichtigen Platz einnahmen. Doch war Sherlock denn fähig,… seinem Freund entgegen zu kommen, zum Beispiel auf dessen Bedürfnisse wie Essen und Schlafen etwas mehr Rücksicht zu nehmen?… So sehr er, beinah krampfhaft, versuchte sein hoch funktionelles Gehirn anzustrengen,… der Detektiv kam auf kein Ergebnis. Jedenfalls auf keines, welches ihm eindeutig verständlich machte, was der wirkliche Grund dafür sein konnte, das er John niemals wieder gehen lassen, diesen eigentlich mit niemandem teilen wollte.…
 

Eifersüchtig und besitzergreifend, mit solchen Begriffen hatte der Doktor den Detektiv bei ihrer Diskussion im Fahrstuhl direkt und indirekt beschrieben. Hatte John denn damit Recht, verhielt sich Sherlock ihm gegenüber tatsächlich so und lag das wirklich nur daran, dass John sein einziger Freund war? Ja, er hatte bei diesem Gespräch offen zugegeben, dass er John bei seinen Ermittlungen an seiner Seite haben wollte, ihn brauchte, seinen Kollegen, seinen Freund. … Aber Sherlocks brachiales und kompromissloses Wesen würde diesen treuen, gutmütigen und bescheidenen Mann wohl möglich irgendwann noch in den Wahnsinn oder zumindest aus seinem Leben (ver) treiben… Doch stimmte das wirklich? Würde es tatsächlich dazu kommen? Wäre ein Versuch, sich dem Anderen etwas mehr zu nähern und zu öffnen, nicht doch ein lohnenswerter Gedanke? Ein positiver Schritt in ein bequemeres und vielleicht interessanteres Leben in... Zweisamkeit?… Wollte Sherlock das überhaupt - solch ein Leben? Und was noch viel wichtiger war - wollte John das auch?… Fragen über Fragen. …
 

Sherlocks gesamtes Gehirn war jetzt geradezu überfüllt mit diesen und ähnlichen Fragen, die ihm, so war er sich einhundert prozentig sicher, nur er selbst, zusammen mit seinem Mitbewohner, beantworten konnte. … Die blasse Hand des Größeren hatte sich derweilen kein Stück bewegt. Verharrte immer noch an Ort und Stelle, erfreute sich geradezu an Johns ausstrahlender Wärme. “…Sherlock?…” Und wieder ging es um ein überaus verzwicktes Rätsel. Ein gedankliches Labyrinth, aus dem der selbsternannte Consulting Detective heraus finden musste. Und dies alles nur wegen einem einzigen Mann. Einem Mann, der nicht hätte gegensätzlicher zu ihm selbst sein können. Das pure Gegenteil, in jeder Hinsicht.
 

Doch war dieser Aspekt nicht genau der ausschlaggebende Punkt, das was Sherlock in seinem Leben, bei seiner Arbeit brauchte?… Konnte es wahr sein, konnte es denn richtig sein?… Neben seiner - wie er es immer nannte - Ehe mit seiner Arbeit,… …war da noch Platz für diesen einen besonderen Menschen?… “Sherlock?”, kam es plötzlich etwas lauter, was den Angesprochenen sofort regelrecht aus seinen Gedanken wieder ins Hier und Jetzt zurück katapultierte. Seine Hand verschwand blitzschnell als sich John verwundert ganz zu ihm umdrehte. Mit noch immer emotionsloser Miene sah Sherlock in die treuen dunkelblauen Augen seines Freundes. Der Doktor setze sich seitlich zu seinem Mitbewohner, zog seinen Bademantel wieder über die Schultern und band ihn, etwas fester um die Hüften, wieder zu. Dabei machte sich erneut Stille zwischen den beiden Männern breit. Sie wussten offenbar momentan nicht genau, was sie sagen wollten, sollten oder konnten. Ihre Einfallslosigkeit für Smalltalk beruhte auf der Tatsache, dass sie zwar durchaus viel zu sagen gehabt hätten, momentan aber kein Wort raus bekamen. Was sie daran hinderte ihre Gedanken frei aus zu sprechen, wussten sowohl Sherlock als auch John gerade selbst nicht einmal so genau.
 

Die Minuten zuvor waren wie im Flug vergangen. Vom Verbinden bis zu Johns Frage saßen die beiden Mitbewohner gerade einmal ein paar Minuten hier zusammen im Wohnzimmer, und schon wurden sie abermals von solch merkwürdigen Gedanken heimgesucht, die keiner der Anwesenden erklären oder gar verstehen konnte. Der Doktor hielt es als Erstes nicht mehr neben dem Jüngeren auf der Couch aus. Mit einem tiefen Ausatmen stand er deshalb schnell auf, sah dabei abermals in die hellen Augen seines Mitbewohners und fragte sich, was dieser wohl gerade denken mochte. Er hatte eigentlich vor gehabt, das Thema, welches sie im Fahrstuhl des Fitnesscenters angefangen hatten, nochmals aufzugreifen, da es ihn wurmte selbst nicht ganz ehrlich zu dem Größeren gewesen zu sein und dessen Antwort, nach dem er länger Zeit gehabt hatte, in Ruhe darüber nach zu denken, irgendwie nicht mehr als Wahrheit anerkennen konnte. Er war sich inzwischen sicher, dass Sherlock ihn bei der Experiment Frage belogen hatte, er konnte sich aber immer noch keinen Reim daraus machen, warum. Der Detektiv hatte zwar die nervige Angewohnheit Dinge zu verschweigen, aber als Lügner kannte der Doktor diesen nicht.
 

Der Jüngere bog auch gerne mal die Wahrheit zurecht, aber das war nicht Dasselbe wie eine absichtliche Lüge, zumindest Johns Meinung nach. Dieser hätte den Größeren zum Beispiel schon gerne gefragt, warum dieser nicht offen zu gab, dass ihr Kuss mehr als nur ein Experiment, zumindest im herkömmlichen Sinne, gewesen war, doch er spürte instinktiv, dass es hier und jetzt nicht die Zeit für solche Fragen war. John war müde, fror ein wenig und wollte im Grunde genommen einfach nur noch hoch in sein Zimmer, schlafen. Sherlock sah es dem Kleineren natürlich an. Er wusste es und  akzeptierte es wortlos. Er selbst wollte noch schnell ein Bad nehmen und sich dann mit einer angemessen Dosis Nikotinpflaster auf seiner Couch ausstrecken, während sein hoch funktionelles Hirn sich endlich wieder um ihren Fall kümmern würde. “Nun,…”, fing der Arzt leise an. “…ich geh dann mal schlafen. Gute Nacht... Sherlock.” Sherlock ließ sich weiter nach hinten ins Polster sinken, nickte und ließ unnötigerweise seinen Blick interessiert durchs Wohnzimmer wandern.
 

“Gute Nacht John.” Nach diesen Worten drehte sich der Doktor auch schon von ihm weg und verließ den Raum. Der Detektiv schaute sogleich auf die Stelle, wo John bis gerade eben noch neben ihm gesessen hatte. Merkte erst jetzt, wie sich sein Körper unbewusst verspannt zu haben schien und lockerte sich etwas. Ein entspannendes, erfrischendes Bad würde ihm jetzt wohl wirklich gut tun. Mit diesem Gedanken stand Sherlock dann auch schon auf. Sein Weg führte ihn direkt ins Badezimmer und dort verweilte er auch für mindestens eine Viertelstunde… Der Doktor hatte sich in der Zwischenzeit, im wahrsten Sinne des Wortes, in sein Zimmer hoch geschleppt. Stufe für Stufe war es ihm schwerer gefallen seinen Fuß zu heben. Doch nun stand er in seinem dunklen Zimmer, welches einzig und allein durch den Schein der Straßenlaternen vor dem Haus, noch ein wenig erhellt wurde.
 

Dadurch war es gerade allerdings deutlich angenehmer für seine müden Augen, weshalb er es auch unterließ zusätzlich Licht zu machen. Er schloss die Zimmertür leise hinter sich und fand im Dämmerlicht mühelos seinen kurzen Weg zu Bett. Die Flucht aus dem, in sich zusammen fallenden Gebäude und  die Verletzung davor, hatten den Veteran mehr mitgenommen, als er es selbst wahr haben wollte. Lange und laut seufzend kniff er, inzwischen auf der Bettkante sitzend, die Augen zusammen und rieb sich den Nasenrücken. Ein letzter Blick auf den Wecker zeigte, dass es schon kurz vor 9 Uhr abends war. Darauf hin vergingen noch einige Sekunden, in denen John einfach nur seine Tür an starrte, stillschweigend und in Gedanken. Schon wieder dieses verfluchte Chaos in seinem Kopf und in seinem... Herzen. Sie beide hatten es momentan wohl nicht leicht - doch wenigstens sollte John für die nächsten paar Stunden davon verschont bleiben und sich vielleicht sogar mal so richtig ausschlafen können, ja, das wäre mal wirklich schön. Einen Wimpernschlag später wurde er dann auch schon von einer überwältigenden Erschöpfung und gnadenlosen Müdigkeit überrollt und ließ sich deshalb sogleich nach hinten auf die weiche Bettdecke fallen. Etwas schwerfällig, mit schon halb geschlossenen Augen, bewegte er den Oberkörper Richtung Kissen, zog die Beine, die Hausschuhe abschüttelnd, auf das Bett, sodass er, nach einer weiteren Drehung, mit dem Gesicht zum Fenster, in der Mitte der Matratze auf der Seite lag. Eine letzte körperliche Aktion vor dem erholsamen Schlaf. Seine Augenlider wurden immer schwerer und ehe er sich versah, wurde er auch schon sachte ins Traumland befördert.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  White-Orchidee
2023-12-14T18:45:28+00:00 14.12.2023 19:45
Ich finde es toll wie die Emotionen und Gedanken beschrieben sind. Das baut richtig Stimmung auf ❤️


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